MUSIKALISCHER WERDEGANG

Von Rupert Nickel

Einflüsse

Zu den ganz frühen musikalischen Einflüssen von Michael Rietzke zählen die südosteuropäische, spanische sowie arabische Musik. Die slawischen Skalen und Musiken brachten ihm sein Großvater, Vater und Onkel näher. Einige Stücke vom Album „la visita“ (1996) weisen auf diese frühe Prägung hin. Im Radio hörte er mit 12 Jahren „Let‘s twist again“ von Chubby Checker und war fortan auch der Rhythm and Blues-Musik sowie der aufkommenden Beatmusik von den Beatles, den Rolling Stones, den Who oder den Kings bis zu den Yardbirds mit Jeff Beck, den Cream, Soft Machine, Rory Gallaghers Taste, B.B. King und der frühen Fleetwood Mac um den Gitarristen Peter Green aufgeschlossen. Seinen „Haupteinfluss – und vielleicht der, welcher seinen musikalischen Vorstellungen damals am Nächsten kamen, waren die frühen Mother of Invention Alben, von denen er Burnt Weeny Sandwitch oder Uncle Meat als die für ihn bedeutendsten betrachtete. Berührungen mit Orchestermusik hatte Rietzke, anders als das vielleicht für viele seiner gleichaltrigen Musikerfreunde der 1960er Jahren möglich war, durch zahllose Teilnahmen an Proben des Bayer Philharmonischen Orchesters, heimlich eingeschleust von seinem Vater. „Am beeindrucktesten waren die Gruppenproben, wenn so sechs oder sieben Kontrabässe loslegten, hast Du eine Ahnung davon bekommen welche Kraft so von Darmsaiten ausgehen kann.“ Berührungsängste in Sachen verschiedener Musikstile und Musikrichtungen, gab es daher für ihn nie. Hans Rietzke BPOEr erzählte: „Ich durfte Heinz Hildebrandt, einst erster Flötist der Bayer Philharmoniker einmal mein Gitarrenspiel auf einer Konzertgitarre vorführen. Der fand es gut, meinte aber, ob ich schon mal Johann Sebastian Bach gehört habe, von dem könne man viel lernen. Ich dachte, hm, was soll ich mit Bach? Ich hatte keine Ahnung. Erst später und nach Jahren des Studiums der Werke von Bach und anderer alter Meister wurde mir klar, was er mir mit diesem Hinweis sagen wollte.“ Diese vielfältigen Kontakte machten Rietzke offen für jedwede Ton- und Klangwelt und schon sehr früh war er unempfindlich gegen jede Art der musikalischen Kritik bezüglich Tonalität und Atonalität, Klang oder Geräusch. So kann für ihn die Musik von Cage oder Nono neben den Beatles bestehen, Varese oder Messian neben John Coltrane, Bartok, Strawinski und Lutoslawski neben Jimi Hendrix und Miles Davis und den Musikern um Weather Report. „ Für jede Musik, Klang oder Geräusch war und bin ich empfänglich.“ In der zweiten Phase seines musikalischen Schaffens galt das ebenfalls für Bach, Mozart, Haydn, Beethoven, Debussy und andere Komponisten wie Albeniz, Ravel und de Falla bis hin zu Mauricio Kagel. Als Gitarrist wurde Rietzke von Django Reinhard, Jimi Hendrix, B.B. King, Eric Clapton, Rory Gallagher, Carlos Santana, Johnny Winter und John McLaughlin beeinflusst.

Die Musik

Rietzke Kompositionen sind unverwechselbar. Die an menschlicher Sprache orientierten Melodiemodellierungen, die ungewöhnlichen Harmonie- und Klangstrukturen, die Arrangements und Orchestrierungen finden sich so nur in seinen Kompositionen. Dabei spielt keine Rolle, ob es sich um die Epoche und Werke der Rock-Jazz-Pop Stücke, den authentischen Klangmodulationen der Hörspektakel oder den später komponierten Werke für Orchester- oder Kammermusik handelt. Sind die collagenhaften, komplexen Kompositionstechniken mit Anleihen aus unterschiedlichen Musikstilen anfänglich ein wichtiger Grundstock, werden später die rhythmische Vielfalt und die gewachsene Musiksprache mit Möglichkeiten neu mit Melodien in den Kompositionen umzugehen, immer wichtiger. Auch schließt sich der Kreis im Spätwerk, denn all das geht über engen Rahmen eines typischen Rock- oder Jazzmusikers hinaus und erklärt seine musikalische Begabung, die eng mit der Geschichte seiner musikalischen Familie zusammenhängt. Rietzke komponiert und arrangiert für Jazz- und Rockbands, Big Bands sowie für Orchester unterschiedlicher Besetzungsstärke vom Kammerorchester bis hin zum Symphonieorchester. Von Beginn an war Rietzke musikalisch offen für Einflüsse jeder Art. Er konnte die sporadisch auftreten Beurteilungen zu Rock-Pop-Jazzmusik in Bezug auf klassisch bzw. zeitgenössischen Komponistenaussagen nur spöttisch kommentieren. Für ihn spielten die Unterschiede der Musikrichtungen- und Stile gleich welcher Epoche nie eine Rolle, sie existierten nicht. „Alles das ist Musik und als solche ernstzunehmen“, äußerte er in einem Radiointerview 1985 beim WDR in Köln und weiter: „Allerdings verachte ich jeden ideologischen Missbrauch der Musik, gleich welcher Farbe, um irgendwelche Flachheiten politischer Strömungen zu emotionalisieren und damit Menschen zu täuschen. „Gilt auch für meine Ablehnung Musik beim Militär einzusetzen.“

Einflüsse der Klassik und klassischen Moderne

The Locals Live 17 - MRRietzke verwies bezüglich seiner Einflüsse als Komponist auf Bach, Bartok, Debussy, Albeniz, Strawinski, Lutoslawski. Inspiriert haben ihn dazu die Stimmenverwendung, metrische Auffassungen, harmonische Verschiebungen, metrische Herausforderungen und Tempowechsel. Auch der Einsatz von Klangfarben dieser Komponisten, waren für ihn Inspiration für die eigenen Kompositionen. Wobei er Bartoks und Bachs Gesamtwerk als die eigentlichen Haupteinflüsse betrachtete. Die zeitgenössische Musik der Darmstädter Schule oder den Aufführungen der Donaueschinger Musiktage folgte er schon in jungen Jahren mit großem Interesse durch Sendungen im Radio oder Fernsehen. Aber auch den Free Jazz zählt er zur klassischen Moderne und nennt diese musikalische Ausdrucksform für ihn ebenso bedeutend wie die weiter oben genannten.

Collage, Zitat und Parodie

Rietzke collagenhafte Kompositionstechnik, welche einen wesentlichen Anteil auf den Alben „Musik“, „Der Prediger“, „la visita“, „Experimente“ und „El final de la visita“ ausmachen und  in monatelanger Detailarbeit mit musikalischen Fetzen, Geräuschen oder Wort-Material umgesetzt wurden, hatte ihren Ursprung im stundenlange Sitzen als Kind und Jugendlicher vor dem Radio beim Aufsaugen von Hörspielen und anderen avantgardistischen Musik- Experimenten, welche in den frühen 1960er Jahren vom WDR ausgestrahlt und sehr populär waren.

Der Gitarrist

The Locals Live 22 - MRAuch als Gitarrist machte sich Rietzke neben seinen Qualitäten als Komponist, Arrangeur und Bandleader einen Namen. In den vielen Jahren als Mitglied unterschiedlichster Rock- oder Jazzgruppen konnte Rietzke sich auf der E-Gitarre weiter entwickeln und erarbeitete sich seinen eigenen solistischen Stil. Die Einflüsse von Jimi Hendrix, Eric Clapton, Frank Zappa, Carlos Santana und John McLaughlin und anderen verwob er mit seiner eigenen experimentierfreudigen Spielweise. Die an menschlicher Melodiesprache orientierte Art der Phrasierung der Soli, war immer Inhalt seines Spiels. Dabei benutzte Rietzke häufig das Wah-Wah-Pedal, das er meist sehr nuanciert einsetzte. Zu den Aufnahmen von „Never Mind“ und „In my Heaven benutzte er eine 12 –saitige E-Gitarre und einen Gitarren-Synthesizer.

Als Belege seines solistischen Spielvermögens gelten vor allem das jazzig angehauchten „Long arm inspection“ (Young Lovers), die freien Soli von „Guitarplay Wel(l)come“ und „United Solo“ von „Never Mind“, das wilde „NY Waltz and Shuffle“ oder das Reggaesolo  „Magdalena“ auf „In my Heaven“. Auch die Soli von „Back to the Roots“ in „My Name is MR“, „Free, free, free“ und das Bluessolo von „Shut up don‘t tell us lies“ zeigen seine eigenwillige Spielkunst. Die Soli in den Stücken „Little white Horses“, „Princess“ und „Touch“ auf den Alben „Michelangelo“ und „Rendezvous“ sind ebenfalls Beweise einer sehr persönlichen Spielweise, die sich in die Songs auch kompositorisch integrieren.